Adventure Berlin

Text: Boris Klinge, Fotos: Yorck Maecke, Boris Klinge

Berlin ist wie Dänemark, im Großen und Ganzen 35 Meter über Null. Nur die Menschen sind anders, die Plätze größer, die Strassen noch kalt und voller Poesie, und um fünf Uhr morgens erzählen sie ihre schönsten Geschichten.

Es ist dunkel und leer am S-Bahnhof Halensee. Kein Bike steht mehr am Kudamm vor dem legendären Musikcafé und auch nicht vor dem Tolstefanz. Die letzte Bordsteinschwalbe steht frierend an einem Imbiss. Oder ist es schon die erste? Vor einem Schaufenster sitzt ein Hund und schaut in die blau gestylte Auslage von Kenzo. Irgendwie passt der Labrador hierher. Dort drüben stakst eine aufgetakelte Transe von einer Clubtüre zur nächsten. Zwei Straßenkehrer schieben rumpelnd einen Karren über die Kreuzung. ´been driving all Night Long. 

A2, immer gen Osten. Der Vierventilboxer surrte wie eine Nähmaschine. Bei 140 schien die Nadel festgefroren. Dazwischen ein paar Sprints, bis 200. In der Nacht ist aller Asphalt grau, und die Begrenzungsstreifen der A2 leuchten hell. Hinter Hannover lichtete sich der Verkehr. Nach Mitternacht schlingern nur noch die Litauer und Estländer mit ihren maroden Zwanzigtonnern müde hin und her. Die Neuen Länder haben die besten Autobahnen. Nachtfahrt, mondlichtklar.

Monoton frisst die GS Streifen um Streifen. Silbrig, schwer und groß ist sie. Wuchtbrumme. Monster-Q. Spritfass nennen sie die Maschine. Man muss ihr schon Gewicht entgegensetzen. Aber dann zeigt sie Charakter. Das beste Fahrwerk der Welt. Sie schwebt, sie gleitet, sie ist ein Easyglider. Und hier kommt sie her, die BMW, die in Spandau vom Band rollt. „Berliner Motorenwerke“.  

Über der Spree geht jetzt die Sonne auf. Am Technikmuseum hängt ein Rosinenbomber in der Luft, darunter rattert die Hochbahn von der Möckernstraße nach Kreuzberg.  Potsdamer Platz. Die Lichter gehen an, gläserne Büros füllen sich mit Menschen. Sie tragen Mappen. Der Mann mit der Mappe. Mappoman. Vor vierzehn Jahren, als mein Freund Hans aus dem Osten kam, war hier nichts. Brache. Hans kam aus Bautzen. Die harte Tour. Freigekauft noch vor der Wende. „Als erstes habe ich hier gegen die Mauer gepisst“, sagt Hans und hebt den Pappbecher.

Der erste Kaffee tut gut. Espresso auf der Promenade am Weinhaus Hut. Die gleißenden Strahlen wärmen uns, das Zeltdach über dem Sony Center leuchtet in allen Spektralfarben und wir haben noch immer den Geruch von Öl in der Nase. Gegenüber wächst ein rotes Backsteingebäude endlos in den Himmel. Manhattan am Morgen. Es sieht aus wie ein 20er Jahre Wolkenkratzer an der Upper West Side. Hier ist Berlin so kosmopolitisch wie New York. Acht Uhr. Der SAT-1-Ballon steigt zum ersten Mal auf, und dahinter drehen sich die Kräne wie im Takt. Großstadtsinfonie. Noch ein heißer Schluck, der Tag wird lang.

In Kreuzberg tanken wir Vitamine. Der türkische Gemüsehändler heißt „Knofi“, und seine Melonen sind zuckersüß. Die Bergmannstraße füllt sich mit Leben. Verhaschte Altbesetzter, Araber. Junge Studentinnen flanieren an den Secondhand Boutiquen entlang. Aus der Markthalle am Ende der Hippmeile dringt der Gestank von frischem Pansen.

Die Teilung der Stadt scheint endgültig aufgehoben. Kaum noch Spuren der Mauer, an die Hans so gerne gepinkelt hat. Außer der Eastside Gallery am Rande von trendy Friedrichshain und einem Wurmfortsatz am Preußischen Landtag. Und den Mauertoten, deren Kreuze symbolisch am Zaun des Tierparks neben dem Reichstag mit der neuen Kuppel hängen. Berlin, das ist ein Zustand, der niemals ist, sondern immer wird, steht auf einem Plakat. Das hat der Philosoph Ernst Bloch gesagt. Hinter dem Reichstag war der Fluss die Grenze, sagt Hans. Dort, wo das Wasser jetzt die megalomanen Kanzlerbauten wie eine Schere durchtrennt. Alles ist im Fluss.

Nicht weit vom mondänen Adlon wachsen die ersten Stelen des Holocaustdenkmals aus dem märkischen Sand. Im Tacheles stellen die Schrottkünstler ihre Multimediamonster aus. Vor der neuen, alten Synagoge mit ihrer goldenen Kuppel patrouilliert der BGS. Adventure Berlin, das ist Geschichte pur vom Sattel aus, wohin man den Schaltfuß setzt. Und überall tanzen die bodybears dazu, es sind Tausende in der Stadt, von Künstlern aus aller Welt bemalt.

In den Modeboutiquen und Cafés des Scheunenviertels steppt am Nachmittag der Bär. Im Westen dagegen nichts Neues. Müßiggang und Jogger im Park am Schloss Charlottenburg. Im Stocken des Feierabendverkehrs am Checkpoint Charlie guckt ein russischer Soldat Richtung Hamburg und ein GI nach Polen. Aber nur noch von der Bildwand herunter.

Am Abend fließt das letzte Licht über die Kuppel des Deutschen Doms und überzieht den Gendarmenmarkt mit einem warmen Orange. Im Konzerthaus wird Romeo und Julia gegeben. Als Biker hat man seinen Zweiteiler im Alukoffer. Die Garderobiere guckt nicht schlecht, als wir uns auf der Toilette umgezogen haben und die Lederstiefel über den Tisch reichen. Nach dem letzten Vorhang Pizza Pasta im Trenta Sei. Und dann tauchen Hans und ich in seine geliebte, gehasste Zone ein. Nachtschwarm, neonkalt.

Das Frühstücksangebot an der Spinnerbrücke ist ungefähr so aufgebläht wie so manche Maschine und ihr Besitzer. Es gibt sabschige Brötchen, tonnenweise Eier, Speck, Bohnen, Würste und Eisbein. Der Kaffee, na ja, lassen wir das und halten uns nicht lange auf. Was auffällt: Berlin ist grün. Überall Parks, Wälder, Seen, Felder. Wir fahren auf die Glienecker Brücke, Hans hält an.

Hier fand vier Jahrzehnte lang der Agentenaustausch statt. Immer im Morgengrauen, sagt Hans. Dann standen Männer mit hochgeschlagenen Kragen vor den Betonschranken. Dichten Rauch und Kältehauch vor den Mündern. Papyrossi die Russen, Lucky Strike die Amis. In der Mitte der Brücke blickten sich die Agenten in die Augen, bevor sie weitergingen.

„Einfache Republikflüchtige haben sie aus dem Knast in den U-Bahnhof Friedrichstraße gebracht und dort in den Zug nach Westen gesteckt“. Hans spuckt in die Havel und startet die Adventure. Rollin´ over history.

In Potsdam, nicht weit von der Brücke, liegt der berühmte Harley-Laden. Fat Boys glänzen in der Sonne. In Sanssouci flötet ein Musikstudent im Alten-Fritz-Kostüm. Feine Kiesel knarzen unter den Reifen. Ausladende Villen. Reichtum. Neue, alte Kaiserlichkeit. Dann beginnt die Seenplatte. Pinienwälder und Sand prägen das Bild, und an manchem Gestade sieht es schon aus wie im Süden Frankreichs. In Caputh, nur ein paar Kilometer hinter Potsdam, hatte Einstein eine Datsche am Wasser.

Der Ring um Berlin aber ist eine Via Mala. Noch immer wird hier gebaut, gebohrt, aufgerissen und umgeleitet, als bräche der Boom erst an. Wer kann, sollte sich über die Bundesstraßen bewegen, Richtung Königs-Wusterhausen, Luckenwalde oder Falkensee halten. Oder sich besser gleich über die unzähligen Baumalleen treiben lassen, über Dörfer, Felder und Wälder. Und dann kann einem im skurrilen Nirgendwo des Ostens so manches passieren.

Denn vielleicht landet man dann auf dem Truppenübungsplatz bei Schenkenhorst, wo sich die Panzer noch immer (mit Blindmunition) beschießen. Am Wochenende jedenfalls darf man sich im dichten Gelände gründlich austoben. Bei Ruhlsdorf, nördlich von Berlin, taucht plötzlich ein Hundeschlitten auf einem der Feldwege auf. Scharf legen sich die Huskies vor uns in die Kurve. Wir folgen ihnen und geraten an eine kleine Bahnhofstation.

Dort züchtet Holger Degen die seltenen Hunde aus Alaska. Irgendjemand hat das Ortsschild von Biesenthal an das Gehege genagelt. „Das stammt vom letzten Jamboree“, grinst Degen. Und damit ist es schon gesagt: eine „Erlebnisgaststätte“ für Biker, Hundeliebhaber und „andere Außerirdische“ will das seltsame Unternehmen sein.

Adventure Berlin eben. Und wenn der Kopf unterm Helm jetzt drückt, der Kaffe im Magen schwappt und die Nacht auf der A2 ruft – dann ist alles im „grünen Multifunktionsdisplay“. 

Copyright an Text & Bild: Boris Klinge / Yorck Maecke

&Mac226;