Heimweh-Land Masuren

Text & Fotos: Boris Klinge

Reporter Boris Klinge fuhr mit dem Motorrad durch das Land der tausend Seen in Ostpreußen

Das Dorf heißt wie eine Frau. Malga, die Kurzform von Malgorczata. Und Malga ist schön. Von weitem schon ragt die Spitze der Kirche über das endlose Grün der Bäume. Endlos wie das Land, seine dunklen Wälder.


Hier beginnt für uns Masuren. Wir sitzen im Sattel unserer Honda Africa Twin. Landstraßen, kleine Dörfer und Storchennester. Man hat den Eindruck, in dieser Gegend gibt es mehr Störche als Hühner. Malga ist schön, aber Malga ist verlassen. Nur noch eine Ahnung umgibt die Ruine der Kirche. Den Rest des Dorfes hat sich die Natur zurückgeholt. Hinter dem Schutt haben sich Sümpfe gebildet, über denen laut schreiend Kraniche kreisen. Es scheint das Ende der Welt. Ab hier hilft nur der Kompass.

Masuren beginnt im Nordosten Polens und reicht bis zu den Grenzen Litauens und Weiß-Russlands. Die Seenplatte entstand in der Eiszeit. Manchmal scheint es, als habe der Mensch nur selten einen Fuß hierhin gesetzt. Tausende Seen, Flüsse, Sümpfe - es ist ein Land der Frösche und des Kormorans. Vielleicht war Malga einmal ein deutsches Dorf. Vielleicht hat sich die Tragödie auch hier abgespielt, als die Bauern, die einst vom Baltikum kamen, nach dem Krieg mit allen Deutschen ihre Dörfer verlassen mussten. Masuren gehörte zu Ostpreußen. Inzwischen kommen die Vertriebenen und ihre Kinder wieder zurück.

Heimwehland. Immer wieder treffen wir auf Busse mit älteren Menschen aus Deutschland. Manche sind hier aufgewachsen. Motorradreisende wie wir sind noch selten. Wo immer wir ankommen: Staunen, Raunen, freundliche Begrüßung. Kinder winken am Straßenrand.

Ein kleines Schild weist zu einem Kloster in der Wildnis - Wojnowo (Eckertsdorf). Früher lebten rund 30 Nonnen im Kloster der Altgläubigen. Jetzt sind es nur noch Schwester Helene, 89, und Schwester Affima, 85. Beide sprechen deutsch. "So alt wird kein Schwein", sagt die Ältere. Im Kirchengebäude vermietet der Klosterbauer die alten Nonnenzimmer. Sieben Euro pro Nase. Mit dem Boot fahren wir um Seerosen herum, angeln, erforschen Biberburgen. Die Pilger aus den Bussen wandern über den Friedhof. Dunkelblaue Wolken im Untergang der Sonne. Wir spielen mit den Schwestern "Mensch Ärgere Dich Nicht". Sie gewinnen.

Materl stehen am Wegesrand, Bauern holen Heu mit Pferden ein. Vor ihren Höfen reden Bäuerinnen mit den Enten. Momentaufnahmen einer alten Zeit. Wir haben keine Lust, zu rasen.

Hinter Mikolaiki: Fährfahrt bis zum Ufer des Spierding-Sees, des größten Wassers der Masuren. Über und unter der Horizontlinie hängt tiefes Blau.
Ab Johannisburg gibt es schier endlose Alleen - pfeilgeradeaus. Licht und Schatten zwischen Bäumen und Feldern. Losgelöst lassen wir uns treiben.

In Elk (Lyck) begrüßt uns der Papst. In Bronze gegossen beugt sich Karel Woytyla auf die Stadt herab und segnet sie.

Hinter Augustow beginnt der Urwald. Wände aus Laub, durchzogen von einem Kanalsystem, das die Flüsse und Waldseen verbindet. Plötzlich sind die Wege überwuchert. Unsere Motorräder schneiden sich wie Eisbrecher durch die Vegetation. Umgestürzte Bäume. Umkehren. Kompass-Arbeit. Aus heiligem Himmel eine Madonna am Wegesrand.

Dann eine hölzerne Kirche, Frauen mit Kopftüchern und Männer mit weißen Bärten. Es ist sieben Uhr morgens. Zeit für die Messe. Im Dorf Gabowe Grady singt ein orthodoxer Frauenchor. Die monotone Litanei verfolgt uns noch eine Weile ins Dickicht hinein.

Nordwestlich des Hancza-Sees stoßen wir im Wald auf die alte Bahnstrecke nach Königsberg. Die Schneise ist geschlagen, der Wall errichtet, aber auf ihm laufen keine Gleise. Plötzlich stehen wir auf einer Brücke. Das Stanczyki-Viadukt, mächtig wie ein Bauwerk aus römischer Zeit. Noch bizarrer ist ein Punkt in einer Wiese, in dem ein Schild steckt. Dort grenzt Polen an Litauen und Russland. Durch das Gras stakst ungerührt ein Storch - von einem Land ins andere. Im Dorf Kranowo in Nordmasuren wohnt die Familie Paetke. John Paetke zeigt uns die Wolfsschanze - das ehemalige Führerhauptquartier. Lange hatte sich Hitler in den Betonmassen im Sumpf verkrochen. Myriaden von Mücken umschwirren die Ruinen der Bunkerstadt. Auf alten Fotos tragen die Soldaten Moskitonetzte über den Mützen - sie sehen aus wie Imker.

Am Oberländischen Kanal, der Ostroda (Osterode) mit Elblag verbindet, müssen die Fährschiffe über zehn Berge. Es wirkt wie eine Szene aus dem Film Fitzcarraldo.

Die Teilung der Stadt scheint endgültig aufgehoben. Kaum noch Spuren der Mauer, an die Hans so gerne gepinkelt hat. Außer der Eastside Gallery am Rande von trendy Friedrichshain und einem Wurmfortsatz am Preußischen Landtag. Und den Mauertoten, deren Kreuze symbolisch am Zaun des Tierparks neben dem Reichstag mit der neuen Kuppel hängen. Berlin, das ist ein Zustand, der niemals ist, sondern immer wird, steht auf einem Plakat. Das hat der Philosoph Ernst Bloch gesagt. Hinter dem Reichstag war der Fluss die Grenze, sagt Hans. Dort, wo das Wasser jetzt die megalomanen Kanzlerbauten wie eine Schere durchtrennt. Alles ist im Fluss.

Am Abend erreichen wir Marienburg. Der Deutsche Orden baute hier die größte Backsteinburg der Welt. Auf dem Vorplatz parken Busse. Es sind die Heimwehtouristen. Marienburg liegt auf jedem Weg nach Königsberg.

Copyright an Text & Bild: Boris Klinge.